Verdichten oder verdrängen?

Lieber Herr Canonica

Das Interview mit Jacques Herzog war sehr anregend. Es gelang Ihnen dabei, einen Dialog zu entwickeln, der weit über das übliche Fragen und Antworten hinausgeht. Dies beinhaltet Ihrerseits zwangsläufig einen gewissen Drang, nicht nur Fragen zu stellen, sondern den Gesprächspartner mit Meinungen zu konfrontieren um seinen Widerspruch zu provozieren. Das Risiko dabei liegt darin, dass der Interviewer dabei unreflektierte und entlarvende Feststellungen von sich gibt:

«Verdichten heisst immer auch Verdrängen»

Herzogs widersprechende Antwort ist subtil, findet jedoch im letzten Satz dieses Abschnittes die treffende und entlarvende Widerlegung Ihrer medial wirksamen, aber falschen Behauptung:

«Das Problem ist, dass die extremen Kreise sowohl der Linken/Grünen als auch der Nationalkonservativen solche Projekte bisher erfolgreich blockiert habe.»

Verdichten heisst eben nicht verdrängen, sondern genau das Gegenteil. Wenn Sie mit «Verdichten» meinen, dass auf einem Grundstück ein Ersatzneubau ein bisschen mehr Geschossflächen aufweist als der Altbau, der dafür weichen musste, im Neubau aber weniger Menschen wohnen als vorher und mehr dafür bezahlen, dann gebe ich Ihnen recht, dass das auf Kosten der ökonomisch Schwachen geht. Sie meinen aber nicht die Verdichtung, sondern die Gentrifizierung.

Wenn in der Schweiz richtig verdichtet würde, dann gäbe es keine Gentrifizierung. Dazu zwei Beispiele auf unterschiedlichen räumlichen Ebenen, welche gleichzeitig die Haltung der beiden von Herzog genannten politischen Pole repräsentieren:
– Die Stadt Zürich soll nach Meinung der rot-grünen Stadtregierung möglichst so bleiben, wie sie ist. Die Verdichtung wird in homöopathischen Dosen verabreicht. Sinnbildlich dafür ist die neue Bau- und Zonenordnung. Die Folge davon: Verdrängung in die Agglomeration.
– Die Schweiz soll nach Meinung der nationalkonservativen Kreise möglichst so bleiben, wie sie ist. Ausländer sind willkommen als Arbeitskräfte, aber nicht als Mitglieder der Gesellschaft. Die Folge davon: Verdrängung und Abschottung.

Die gegenwärtige, real existierende Konsens der politischen Pole sorgt für die genannte Verdrängung. Nicht zu verdichten heisst verdrängen. Das ist die gegenwärtige Situation in der Schweiz, welche auf einer vielleicht unbewussten, aber medienwirksam ausgeschlachteten politischen Giftmischung basiert.

Jacques Herzog hat Sie also entlarvt. Als Schweizer, der den Esel meint, aber den Sack schlägt. Oder einfach den Fünfer und das Weggli will. Die Schweiz soll prosperieren und wachsen, aber sich dabei ja nicht verändern. Und die, die etwas daran ändern wollen, predigen die Verdichtung, also ist man dagegen und findet noch ein sozial klingendes Argument dagegen.

Richtig zu verdichten ist eine geeignete Strategie für die Schweiz, um die Herausforderungen der Zukunft auf soziale, ökologische und wirtschaftliche Art zu lösen. Die bestehenden Bauzonen bieten genügend Platz, um ein kräftiges Bevölkerungswachstum aufzunehmen, urbane, durchmischte Räume zu gestalten sowie Kulturland und Natur zu erhalten. Es wird integriert, nicht verdrängt. Die «Fünfer und Weggli»-Mentalität der Schweizer hingegen birgt das Risiko, aufgrund des zwanghaften Ballenbergisierens und Konservierens der bestehenden Siedlungen, kombiniert mit dem Druck des Wirtschaftswachstums schlussendlich den Siedlungsbrei über die restlichen Grünflächen zu ergiessen. Notabene mit überproportionalen Infrastrukturkosten, weil jeder doch sein Häuschen möchte. Am Schluss sind der Fünfer und das Weggli weg, obwohl man beide so gerne gehabt hätte.

Viktor Giacobbo und Mike Müller haben es am Sonntagabend auf den Punkt gebracht, mit dem Risiko, ins Zynische abzugleiten: Flüchtlinge ertrinken im Mittelmeer, obwohl wir noch Platz für fast 3 Millionen Menschen haben, ohne einen Quadratmeter Naturraum ausserhalb der Bauzonen zu überbauen. Im Gegensatz zur Magazin-Redaktion haben die beiden Satiriker es begriffen: Nicht zu verdichten, heisst verdrängen.

David Belart, Architekt, Zürich

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